Reden
FOR FUTURE. DIE ZEHN GEBOTE VON UDO LINDENBERG
15.12.2002
Rede von Reinhard K. Petrick
Hamburg - St. Jacobi Kirche
»Ich bin die Saat, die endlich aufgeht / ich bin der Aufstand, der jetzt aufsteht... / ich leb nach eigenen Gesetzen... / Der Tag ist gekommen, ich schrei` euch ins Gesicht: ... / Das Gesetz bin ich!«
So heißt es in einem Songtext von Udo Lindenberg aus dem Jahr 1982: Credo für Kunst an sich. Wer Kunst machen will, braucht eigene Gesetze. Udo Lindenberg hat das in Leben und Werk bewiesen. Da ist eine treibende Kraft in ihm: gegen Spießertum und verlogene Bürgerlichkeit, ein Strom, der sich sein eigenes Bett graben muss, unabhängig von Regeln und Normen. Ein Mann, der seinen Weg geht: seit über dreißig Jahren, völlig unverwechselbar in der Musikszene, einer, den kein anderer zu imitieren wagt: »Ich bin ich.« Jetzt schon ein Mythos, ein Stück Musikgeschichte.
Doch seine Rockmusik ist ohne Text nicht denkbar. Und Text ist für ihn kein nettes Beiwerk zu fetzigen Klängen, sondern Botschaft: politisch, gesellschaftskritisch, aber auch -aufbauend, Grenzen überschreitend. »Hinterm Horizont geht's weiter ...« - wen kann es wundern, dass wenigstens einer seiner Songs zu einem modernen Kirchenlied geworden ist, selbst wenn Lindenberg sich selbst wohl kaum von einer Kirche eingemeinden ließe - kosmopolitisch und multikulturell, multireligiös - Worte, die ihm wichtig sind. »Das Gesetz bin ich!« - wenn sich eine solche Aussage in narzisstischer Selbstverliebtheit erschöpfen würde, wäre dieser Rockstar längst vergessen. Aber er ist die Stimme, mit der sich viele seiner, unserer Generation identifizieren können: von der 68er-Bewegung bis hin zu seinem engagierten Appell gegen Neonazis in Deutschland, Tourneen, in die er auch andere Sänger einbezogen hat: »Rock gegen Rechts.«
Nein - Udo Lindenberg ist kein Nein-Sager und ewiger Protestler, der in bloßer Kritik stecken geblieben wäre. In einem Lied singt er: »Ein Feuer gegen die Dunkelheit / ein flammender Rebell / und wenn die Welt zu düster ist / dann machen wir sie eben hell.« Einer Null-Bock-Generation, die sich das Wort »no future« an ihre Stirn geschrieben hat, stellt er seine LP mit dem Titel »Udopia« entgegen und singt von einer Welt, die trotz allem gut und schön und vor allem lebenswert erscheint. Das ist sein Glaube. Dafür setzt er sich mit aller Kraft und seinen künstlerischen Möglichkeiten ein.
Für ihn war wohl immer klar, dass man an irgendetwas glauben muss, um leben zu können. Dabei hängt sein Glaube nicht an alten Gottesbildern. Aber auch er kann nicht von unseren abendländischen Traditionen absehen. Schon in einem frühen Song stehen Worte über Gott: »Wir rufen seinen Namen / doch er hört uns nicht... / irgendwo im Weltenraum / träumt er seinen süßen Traum / uns hat er längst vergessen / Gott ist auf dem Kosmotrip.« Gott scheint sich zurückgezogen zu haben in die Weiten des Weltraums und überlässt unsere Erde sich selbst; so fern scheint er, dass manch einer die Losung ausgibt: »Gott ist tot.«
Was bleibt von einem Gott, der nicht mehr deutlich zu spüren, der in den Herzen vieler abgestorben ist? Es bleiben Worte, die sich eingeprägt, an die Menschen früherer Zeit geglaubt haben, weil sie nützlich waren und Zusammenleben erleichterten. Zu einer Zeit, die voll ist von Worten in allen möglichen Medien, die aber - kaum gesprochen oder geschrieben - schon vergessen sind; in einer Gesellschaft, wo nicht-materielle Werte mehr und mehr ins Hintertreffen geraten, besinnt sich Udo Lindenberg auf Urworte: auf die Zehn Gebote. Und wer sich denen nähert, muss wohl die Grenzen seiner Kunst überschreiten. Denn Songs über die Zehn Gebote schreiben - was käme da heraus? Womöglich ein Sacro-Pop-Verschnitt, der allenfalls mildes Lächeln hervorlocken würde.
Der Titel seines neuen Song-Albums steht wohl für Lindenbergs Entwicklung in den letzten Jahren: »Exzessor«. In genauer Übersetzung bedeutet dieser Begriff: einer, der überschreitet. Natürlich hat der Sänger von jeher versucht, Grenzen zu überschreiten: musikalische, moralische. Seit einiger Zeit wagt er den Schritt von Musik und Text zum Malen und Zeichnen und scheut größte Themen dabei nicht, zum Beispiel einen Faustzyklus unter dem Titel »Der Pakt«. Auch für die Zehn Gebote hat er den Pinsel in die Hand genommen und ein künstlerisches Werk geschaffen, das dem gewaltigen Thema auf spielerische und ironische Weise gerecht zu werden versucht. Vielleicht kann man die Zehn Gebote nur noch so behandeln: weil man weiß, dass sie zwar notwendig sind für menschliche Gemeinschaft, aber überall in der Welt mit Füßen getreten werden. Weil man sie unbedingt braucht, aber überall Ausnahmen von der Regel zulassen muss.
Wie auch manchmal in den Songs haben Lindenbergs Bilder neben ihrer Message eine komische Komponente. Vor allem aber: ob in Musik, Text oder Bild - Udo bleibt stets Udo: »Ich bin ich.« Fast jeder Künstler bildet sich selbst in seinem Werk ab. So erscheinen auf vielen Bildern so etwas wie Selbstporträts des malenden Sängers und Texters. Der Mose trägt seine Züge und sein landesweit bekanntes Äußeres - Wegweiser für den ganzen Bilderzyklus: auf dem heiligen Berg stehend, mühsam Tritt findend und dabei eine gewaltige Tafel stemmend mit der Aufschrift: »Du sollst«. Jeden Augenblick droht der Stein mit dem göttlichen Willen das kleine Menschlein zu erdrücken.
Ebensolche Größenverhältnisse gibt es bei der Darstellung des 1. Gebotes: »Ich bin der Herr dein Gott«, wo ein riesiger Mund dem winzigen Menschen diese Worte entgegenschleudert, begleitet von einem drohenden Finger, der das Geschöpf in den Staub drückt. Solche Sicht ist im Blick aufs Alte Testament der Bibel nicht falsch. Denn dort wird Gott nicht selten mit fast dämonischer Gewalt geschildert. Für Lindenberg ist es wohl Ausdruck seiner Sicht von Autoritäten: die mit Strafandrohung dem Untergebenen gegenübertreten; die man schwerlich lieben, sondern nur fürchten kann. Ähnlich verhält es sich mit dem Bild zum 4. Gebot: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.« Auch hier die Autoritäten übergroß - die Kinder wie Zwerge, auf dem Fernsehgerät tanzend, doch von den Eltern nicht bemerkt, die sich an bunter Unterhaltung und an Dosenbier erfreuen. Hier kehrt sich das Gebot um: Nicht die Kinder werden ermahnt, die Eltern zu ehren, sondern die Eltern, damit sie ihre Kinder überhaupt wahrnehmen. Im Grunde nichts anderes als der Songappell Lindenbergs an Gott, sich nicht in ferne Weiten zurückzuziehen und die Menschen zu vergessen.
Gebote und zugleich ihre Übertretung sind stets Ausflüsse des eigenen Innern. So wie, psychologisch betrachtet, Gott eine Personifizierung der väterlichen Autorität ist, die in einem jeden steckt, nehmen auch unsere Wünsche nach Verletzung ihrer Gebote Gestalt an. Beim 6. Gebot - »Du sollst nicht ehebrechen« - ein bürgerliches (Ehe-)paar vor den Traumgebilden seiner Sehnsüchte: nackte Figuren, die mit eindeutiger Gebärde anlocken wollen, auf die man zwar mit strengen Mundwinkeln schaut, aber angezogen wird, solange man lebt.
Besonders originell und witzig ist das Bild zum 7. Gebot - »Du sollst nicht stehlen«: Darauf finden sich nur diese vier Worte - und nichts weiter. Die Neigung zum Stehlen ist wohl in der Welt so ausgeprägt, dass selbst dem Maler der Inhalt seines Bildes weggenommen wurde. Vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass Gebote manchmal zu abstrakt werden und sich Konkretion nicht mehr entdecken lässt.
Die Vorstufe von Stehlen kann Begehren sein. Im Zehnten Gebot zeigt Lindenberg eine ländliche Idylle, wo der Neid in grüner Gestalt, speicheltropfend, auf das Anwesen schaut, zum Beispiel auf eine Kuh mit weiblichen Hinterrundungen und Strapsen. Durch dieses kleine Accessoire gelingt es dem Maler, das Gebot mit einem zeitgemäßen Anstrich zu versehen. Zu den Zehn Geboten gehört im Grunde auch die Aufforderung: »Du sollst dir kein Bildnis machen.« Eigentlich steht sie als Problem am Anfang aller Kunst: etwas vom Leben in einem Bild fassen wollen, in Wort, Musik, Malerei. Der Udo Lindenberg, der da mit seinen vertrauten Begleitern Hut und Zigarre vor einer leeren Leinwand sinnt, ist der Künstler an sich, der sich mit der scheinbar unlösbaren Aufgabe konfrontiert - und es irgendwann dann doch wagt. Dabei wird er nie vor Zweifel sicher sein, ob ihm das Werk gelingt, ob er sein Anliegen in Ton oder Bild ausdrücken kann.
Die leere Leinwand ist aber auch Kennzeichen des Glaubens, der nie zum Wissen wird. In seinem letzten Song-Album stellt Lindenberg die Frage aller Fragen: »Gott, wenn es dich gibt / Wie immer du auch heißt / Und trägst du noch so viele Namen... / Graue Wolkenberge, zeig mir das Licht / Wohnst du darüber / Oder bist du ein Gerücht?«
Doch wenn es ihn geben sollte, dann will Udo auch etwas von ihm haben. Dann soll es kein zurückgezogener Gott sein, dann darf man bitten, fordern: »Gib mir die Power / ich will dafür stehn / Die Welt zu ändern / Das muss doch gehn.«
Die Zehn Gebote menschlichen Zusammenlebens haben die Welt verändert, nicht nur im Christentum und Judentum, sondern auch in anderen Religionen. Aber sie sind immer und überall bedroht, missbraucht und vor den Karren eigener, auch politischer Interessen gespannt zu werden.
Ob Kunst die Welt verändern kann, ist seit langem ein Streitfall. Wichtig aber, dass Künstler weiterhin mit diesem Anspruch antreten. Dass sie sich nicht entmutigen und verhärten lassen »in dieser harten Zeit«. Udo Lindenberg hatte und hat weiterhin den Mut dazu, weil er glaubt, dass es gut werden kann, wenn man zusammenhält und alle Kräfte von Gefühl und Kopf einsetzt.
»No future?« Diesem Fragezeichen hält er seine trotzige Power entgegen: »Nein, ich will kein Dichter sein / der Blumen bringt an das Grab der Vernunft / und der was Schlaues singt / Che Guevara und Luther-King / dürfen nicht umsonst gestorben sein / sonst pack ich mein Mikrofon / für immer ein.«