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Keine Panik!

24.08.2023

Udo Lindenberg genießt maximale Narrenfreiheit nach 50 Jahren auf der Bühne. Wie hat er das nur geschafft?

New York, Los Angeles, London, die Hauptschauplätze der gesammelten Mythen des Rock ’n’ Roll, sie faszinierten ihn von Anfang an. Er hat sie besungen und von ihrer Bedeutung erzählt. Er hat diverse Ausstattungsdetails in seiner eigenen Geschichte nach ihrem Vorbild modelliert. Aber Konzerte gegeben hat Udo Lindenberg, der vermutlich bedeutendste aller deutschen Rockstars, an keinem dieser Orte.

In der Schweiz und Österreich ist er natürlich aufgetreten mit seiner Band, dem Panikorchester. Zur Zeit der deutschen Teilung sang Lindenberg einmal in der DDR, kurz darauf sogar in der Sowjetunion. Nur in die legendären angloamerikanischen Spielstätten schaffte er es nie, zumindest nicht als Bühnenkünstler. Dabei hätte man sich das ja wunderbar vorstellen können: eine nette, schnuffelige Udo-Show im Klubformat, in Soho oder einem kleinen Schuppen am Sunset Boulevard, fürs deutsche Auswandererpublikum und die heimischen Experten. Oder im Madison Square Garden als lustiges Vorprogramm für die ­Scorpions, die die knapp 20.000 Sitzplätze der Arena eh mühelos ausverkaufen.

VON NO „PANIC ON THE TITANIC“ BIS „KOMET“

Dabei gab es durchaus Pläne, auch in den Rock-Mutterländern eine Karriere für ihn aufzubauen. 1976, als der damals 30-jährige Lindenberg in Deutschland lässig von Erfolg zu Erfolg steppte und goldene Schallplatten sammelte, brachte sein Label ein englischsprachiges Album auf den Markt. Es erschien in Großbritannien und Kanada, trug den offenbar ernst gemeinten Titel „No Panic On The Titanic“. Die Aufmerksamkeit, die sich mit Songs wie „Nothing But A Vacuum“ oder einer englischen Version von „Rudi Ratlos“ erregen ließ, blieb leider minimal.

Aber das ist nichts, was seine Lebensleistung trüben würde. An ihr baut Udo Lindenberg auch mit inzwischen 77 Jahren weiter, stellte vor Kurzem mit einem Song gleich zwei Hitparadenrekorde auf. „Komet“, das männerromantisch-pathetische Duett mit dem Mannheimer Rapper Apache 207, wurde Lindenbergs allererster Nummer-eins-Hit in den deutschen Singlecharts. Und blieb am Ende so lange auf der Spitzenposition, dass es Ende Juli mit 18 Wochen die bisherigen historischen Gesamtbestzeiten übertraf, die „Despacito“ von Luis Fonsi und „Rivers Of Babylon“ von Boney M. hielten.

Natürlich haben die Verkaufscharts heute, im Zeitalter des Musikstreamings, keine allzu große Relevanz mehr. Dass sich Lindenberg hier noch 2023 in die Rekordliste eintragen kann, lässt sich trotzdem als willkommenes Signal lesen – dafür, dass der Hochverehrte noch immer viel mehr ist als das alte Rock-Maskottchen, für das ihn einige halten. Mehr als eine lebende Legende, die regelmäßig zum Empfang von Lifetime-Achievement-Preisen aus dem Schrank geholt und auf irgendwelche Bühnen gezerrt wird.

Das Bundesverdienstkreuz bekam er schon 1989, 2019 sogar ein zweites Mal. Dass Lindenberg, 1946 im westfälischen Gronau geboren, ein solches nationales Emblem und Wappentier werden würde, das hätte man selbst zur Zeit der frühen großen Erfolge nicht im Traum geglaubt. Als Reeperbahn-Rock’n’Roller sang er spöttische, schnoddrige Reime gegen das deutsche Spießbürgertum, für die allgemeine geistige Lockerung. Und für die in seinen Augen wahren Helden, die am Rande der Gesellschaft ihre Dinger durchzogen. Kein Stoff für Verdienstkreuzverleihungen.

Sogar dem eigenen Vater las er in einem Song die Leviten: Er warf ihm vor, die Augen verschlossen und zu wenig gegen den Aufstieg der Nationalsozialisten getan zu haben. „You should have killed Hitler“, sang Lindenberg an seine Adresse in „Berlin“, einem weiteren englischen Lied. Der Künstler nahm es 1981 während einer New-York-Reise auf, es kam nur in den USA und Großbritannien auf den Markt. Dass er kein reiner Thekenvogel und Straßeneckenpoet war, sondern sich ernsthaft für internationale Geschwisterlichkeit und die Aufarbeitung der Geschichte interessierte, hätte man spätestens da wissen können.

Wir hatten natürlich auch mal Zeiten, da war es ein bisschen anders“, sagt Lindenberg an einer Stelle des neuen Dokumentarfilms „50 Jahre Rock ’n’ Roll in der bunten Republik“, der im September auf ARTE seine TV-Premiere feiert. „Da waren sie eine nicht ganz so populäre Angelegenheit, die Paniksongs. So was von raus, so was von gestern.“ Er meint die 1990er Jahre und die frühen Nullerjahre, in denen die Erfolge ausblieben und ­Lindenberg vorübergehend als Museumsstück galt.

Nach dem Ende des Kalten Krieges waren die großen Themen damals abgehakt, es gab kurzfristig nicht mehr viel zu sagen für ihn. Die andere Hälfte der Wahrheit ist, dass er in dieser Zeit verstärkt mit Alkoholproblemen zu kämpfen hatte. Was auch darin resultierte, dass er einige künstlerisch unglückliche Entscheidungen traf. „Aber da wussten die Leute noch nicht: Der von gestern wird auch wieder der von morgen sein“, fährt ­Lindenberg im Film fort. „Und auch von übermorgen.“ Im Jahr 2008 gab es in der Tat ein unwahrscheinliches Comeback, mit dem bis heute mehr als 700.000 mal verkauften Album „Stark wie zwei“ und einer Tournee, bei der sich das Publikum frisch in ihn verliebte. Das Panikorchester ist 2023 noch immer aktiv, 50 Jahre nach der Bandgründung. Das Jubiläum ist nicht nur Anlass für den von Hannes ­Rossacher gedrehten Dokumentarfilm, sondern auch für eine neue, umfangreiche Edition von Konzertmitschnitten, die Mitte September als „Udo Lindenberg und das Panikorchester – Live“ auf sechs CDs und Vinylschallplatten sowie als ausführliche Streaming-Playlist erscheint.

Natürlich ist einiges von dem, was ­Lindenberg durch die Jahrzehnte gemacht hat, eher schlecht gealtert. In Songs wie „Lady Whisky“ oder „Unterm Säufermond“ wird der Schnapskonsum eine deutliche Spur zu sehr verherrlicht – obwohl etwa der Text von „Alkoholmädchen“ auch die klinische Drastik des Problems darlegt. Im Zuge der Debatte über sexuelle Selbstbestimmung in der Kunst wurde mehrfach auf Songs hingewiesen, in denen seine Protagonisten mit minderjährigen Frauen flirten. Nicht alles davon kann man wegerklären. Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass ­Lindenberg auch in diesen Fällen nie ansatzweise mit Gewalt oder Dominanzgesten kokettierte. Wenn es einen Grundgedanken gibt, der sich durch sein Werk zieht, dann ist es das Streben nach Freiheit – einer Freiheit, die humanistischen Idealen folgt, trotz gelegentlichem Kneipengeruch und Rotlichtschimmer. Oder vielleicht gerade deswegen.

 
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